Freitag, 22. April 2016

Dan Diner "Das Jahrhundert verstehen"

Der Titel von Dan Diners Buch „Das Jahrhundert verstehen“ formuliert schon einen großen Anspruch an sein Werk und so versucht er, auf 320 Seiten die Geschichte des 20. Jahrhundert zusammenzufassen und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen. Der Untertitel „1917 – 1989“ ist dabei eher irreführend. Auch wenn sich seine Ausführungen auf den Zeitraum zwischen Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn einer europäischen Einigung in den 50er Jahren konzentriert, sind viele Zusammenhänge viel umfassender, so dass auch oft Bezüge zur Zeit vor oder während des ersten Weltkriegs eine Rolle spielen. Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der Sowjetunion spielen hingegen gar keine Rolle mehr in der Darstellung, so dass sie eigentlich in den 60er Jahren endet.
Diner versucht in seinem Buch, keine klassische Geschichtsschreibung in rein chronologischer Reihenfolge zu erstellen, sondern legt den Schwerpunkt auf die Beziehungen und Folgen von einzelnen Handlungen, was das Buch gut lesbar und nachvollziehbar macht. Die dadurch zeitweise stattfindenden Zeitsprünge lassen sich beim Lesen recht schnell erschließen und sind kein Hindernis. Als Leser, der sein Wissen aus dem klassischen Geschichtsunterricht der Schule bezogen hat, erkennt man plötzlich neue Zusammenhänge durch die Einnahme einer anderen Perspektive. Diner stellt an vielen Punkten die Perspektive Russlands und der in seinem Umkreis liegender Staaten ebenso wie die griechische oder türkische Situation in den Blickpunkt, was einen neuen Eindruck der Abläufe und Zusammenhänge ermöglicht.
Dan Diners „DasJahrhundert verstehen“ ist ein spannendes und erhellendes Buch für alle geschichtsinteressierten Leser. Man muss sich jedoch erst einmal auf den Stil einlassen, den ich teilweise etwas gestelzt und künstlich abgehoben fand. An einigen Stellen hätten sich die Zusammenhänge meiner Meinung nach auch einfacher erklären lassen. Nachdem ich mich etwas eingelesen hatte, haben mir die Darstellung Dan Diners und sein Blick auf die Geschichte aber sehr gut gefallen. 

Donnerstag, 21. April 2016

Jeffrey Archer "Erbe und Schicksal"

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei und nachdem endlich entschieden wurde, ob Giles Barrington oder Harry Clifton der rechtmäßige Erbe des Barrington Familienimperiums ist, kehrt Ruhe ein. Harry arbeitet als Kriminalautor und heiratet endlich seine große Liebe Emma, mit der er bereits einen Sohn hat. Doch Sebastian erweist sich als schwieriges Kind, der in diesem Teil in den Mittelpunkt der Geschichte um Harry Clifton rückt. Auch seinem Weg folgt der Leser jetzt, wie bisher dem von Harry Clifton.
„Erbe und Schicksal“ ist wie schon die ersten beiden Bände der Saga um die Familie von Harry Clifton absolut mitreißend und faszinierend. Die Charaktere sind unglaublich sympathisch und lebensnah. Durch Emma rückt die Emanzipationsbewegung etwas in den Vordergrund, wenn auch nur angedeutet. Sie kämpft dafür, einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften machen zu können, um eine größere Rolle im Unternehmen ihrer Familie zu spielen. Dazu tauchen alte und neue Gegenspieler auf, zum Beispiel Alex Fisher, der Harry und Giles schon zu Schulzeiten quälte und jetzt versucht, Giles seinen Platz im Parlament streitig zu machen. Ein neuer Charakter, der der Geschichte sehr viel Schwung gibt, ist Giles Frau, eine verwöhnte Lady wie sie im Buche steht, die der ganzen Familie das Leben schwer macht.
Jeffrey Archer ist wieder ein großartiges Buch gelungen, dass die Lebensgeschichte der einem inzwischen ans Herz gewachsenen Personen mit den historischen Entwicklungen im damaligen England und Amerika miteinander verknüpft. Wie schon die ersten beiden Bände endet die Geschichte mit einem Cliffhanger, so dass man es gar nicht abwarten kann, Band vier in den Händen zu halten. Die Clifton-Saga ist eine großartige Reihe und Band drei kann problemlos mit den ersten beiden Bänden mithalten – spannend, bewegend und mitreißend bis zur letzten Seite. 



Montag, 18. April 2016

Juli Zeh "Unterleuten"

Unterleuten ist ein Ort, der seit Jahren nach den gleichen Regeln funktioniert. Es gibt die Zugezogenen, die sich auf dem Land mehr Lebensqualität erhoffen, den Besitzer der „Ökologica“, einem landwirtschaftlichen Betrieb, der als Nachfolger der LPG nahezu einziger Arbeitgeber im Ort ist. Dann die klassischen „Wendeverlierer“, die nicht akzeptieren wollen, dass die Welt sich verändert hat. Dazwischen stehen ihre Familien, Kinder und Bekannte, die alle ihren festen Platz in dem Netz aus Beziehungen haben. Als Unterleuten zum Fördergebiet für erneuerbare Energien werden und zahlreiche Windkrafträder bekommen soll, brechen plötzlich alte Kämpfe wieder auf, Rollen werden neu verteilt und das lange so stabile Beziehungsgeflecht droht zu zerbrechen.
Juli Zeh ist mit „Unterleuten“ das Portrait einer fragilen Gesellschaftsstruktur gelungen, die sich plötzlich in einem Kampf wiederfindet. Systematisch legt sie die Schwachstellen einer Gesellschaft offen, die ohne Außenkontakt völlig in sich selbst verkeilt scheint. Personen, die von außerhalb in den Ort gezogen sind, stehen am Anfang noch distanziert am Rande und glauben, sich in diese Struktur nicht hereinziehen lassen zu wollen, doch unglaublich schnell finden sie sich selbst als Teil dieses Abhängigkeitssystems wieder, das am Ende in einen Kampf auf Leben und Tod endet. Frei nach dem Motto „Was ich nicht bekomme, soll auch keiner anderer haben!“ schraubt sich das Aggressionspotenzial sowohl im Subtilen als auch in offener Gewalt auf einer nach oben scheinbar offenen Skala immer weiter hoch, bis Entscheidungen getroffen werden, die zu Beginn noch keiner für möglich erachtet hätte.
Die Autorin beschreibt beeindruckend kühl und distanziert vom Niedergang der menschlichen Gemeinschaft angesichts der Aussicht auf Geld und Einfluss. Deprimierend einfach zerlegt sie die gesellschaftlichen Strukturen, bis am Ende nur noch Individuen stehen, die hilflos um sich schlagend ihre Position verteidigen. „Unterleuten“ ist ein großer Roman über die großen Probleme der Gesellschaft und in seiner gleichzeitig mitreißenden und spannenden Schreibweise ganz sicher herausragend in der aktuellen Literaturlandschaft.



Montag, 11. April 2016

Elfriede Hammerl "Von Liebe und Einsamkeit"

In „Von Liebe und Einsamkeit“ beschreibt Elfriede Hammerl unterschiedlichste Versionen von Liebe, doch fast alle führen unweigerlich zu Einsamkeit, Angst und Schmerz. Es ist eine sehr negative Sicht auf die menschlichen Beziehungen wie es scheint, auf den getriebenen Menschen der andere zerstört auf der Suche nach seinem eigenen vermeintlichen Glück, der rücksichtlos durchs Leben wandelt und vertraute Menschen plötzlich von sich stößt. 
Dennoch wirken die Geschichten nicht anrührend oder bewegend, stets hält die Autorin Distanz zu ihren Figuren und lässt sie wie ein Theaterstück die Abgründe der Menschen vorführen. Nur selten findet eine dieser Figuren ihr Glück oder eine Liebe, die ohne Einsamkeit und Schmerz zu haben wäre. Geschichten mit Happy End und einem rosaroten Sonnenuntergang hätten zu diesem Erzählband aber auch nicht gepasst, daher ist es keineswegs negativ zu werten. Elfriede Hammerl scheint eine sehr gute Beobachterin zu sein, nur so kann sie den Abstand zu den Geschichten halten und sie dennoch detailliert beschreiben. Ohne übertriebenen Herzschmerz gehen Ehen kaputt, wird mit Kalkül, Lug und Trug die bestehende Liebe gehalten und eine neue - vielleicht glücklichere- verhindert. Doch um welchen Preis? Die Frage scheint über allen Erzählungen zu schweben: Was ist es uns eigentlich wert, eine Liebe zu halten? Wert an Arbeit aber auch an List und Hinterhältigkeit. 
Mit „Von Liebe und Einsamkeit“ ist Elfriede Hammerl ein überzeugender Band über die menschliche Natur und die Liebe gelungen, der zwar distanziert und kühl wirkt, sich dafür mit umso überzeugenderen Beschreibungen hervorhebt. 

Sonntag, 10. April 2016

Lars Mytting "Die Birken wissen's doch"

Edvard wächst bei seinem Großvater und seiner Großmutter auf einem kleinen Hof in Norwegen auf. Als mit seinem Großvater sein letzter Verwandter stirbt, taucht plötzlich ein Sarg aus Birke auf, den dessen Bruder Einar geschreinert hat. Doch der sollte bereits 1943 im Krieg gefallen sein. Wie konnte er da noch in den 60er Jahren einen Sarg für seinen Bruder schreinern? Edvard macht sich auf die Suche nach Einar und gleichzeitig nach seiner Vergangenheit. Denn auch der Tod seiner Eltern wirft einige Fragen auf. 
Die Birken wissen‘s doch“ von Lars Mytting ist ein sehr dichter Roman, der einen als Leser mit auf eine Reise nimmt. Viele Fragen sind offen, als Edvard seine Suche beginnt, doch statt Lösungen scheint er immer mehr Fragen zu finden, deren Lösung genauso auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs an der Sommes deutet wie auf eine kleine scheinbar unbewohnte Insel der Shetland Inseln. Edvard, der den kleinen Hof zu Hause kaum je verlassen hat, sieht sich so plötzlich auch mit der Welt außerhalb seines Universums konfrontiert und merkt, wie er sich dadurch selbst verändert. Er muss sich die Frage stellen, ob er lieber der Edvard Hirifjell bleibt, der er immer war, oder ob er bereit ist, sich in jemand anderen zu verwandeln. Eine Person, die er selber vielleicht nicht so sympathisch findet, die aber geschaffen ist durch die Umstände, in denen er sich plötzlich wiederfindet. Auch auf die Liebe trifft er in einer Form, wie er sie noch nicht kannte und verletzt plötzlich Menschen, die er nie so treffen wollte. Hin und hergerissen versucht Edvard, einen Weg zu finden, das richtige zu tun. Er macht in dieser Geschichte eine große Entwicklung durch und auch wenn er vielleicht nicht alle Fragen restlos beantworten kann, weiß am Ende zumindest wo er hingehört und sein will. Und wie er letztendlich sein will. 
Lars Mytting ist mit diesem Roman eine großartige Geschichte gelungen, die zeigt, wie die Geschichte eines Menschen ihn prägt und wie eben das Nicht-Wissen der eigenen Vergangenheit eine Person wie einen Getriebenen ohne Rücksicht vorantreiben kann. Ein wunderbares Buch über die Suche nach einem Glück, das am Ende ganz nah ist.  

Besonders hervorheben möchte ich in diesem Fall auch die besonders schöne Ausgabe, der Suhrkamp Verlag hat sich sichtlich Gedanken über die Gestaltung von Cover und Buch gemacht. Das Umschlagpapier hat die Struktur von Birkenholz und darunter verbirgt sich ein Buch, dass von Farbe und Struktur her auch an Holz erinnert. Dies finde ich besonders gelungen und spiegelt die Liebe zum Holz wieder, die auch in der Geschichte selber eine große Rolle spielt. 

Mittwoch, 6. April 2016

Katherine Pancol "Muchachas - Tanz in den Tag"

„Tanz in den Tag“ – was als fröhliche Geschichte über die unbeschwerte Hortense und ihren Freund Gary beginnt, zwei erfolgshungrige und lebenslustige junge Leute in New York, wird schnell zu einem ergreifenden und ernsten Roman über eine Frau (Leonie), die in einer Gewaltspirale gefangen ist. Noch jung hat sie in einer französischen Stadt lebend den Aufschneider Ray Valenti geheiratet und hofft darauf, mit ihm glücklich zu werden. Doch Ray schlägt sie und lässt all die Wut an ihr aus, die er in sich trägt. Ihre Tochter Stella bricht irgendwann aus dieser Gewalthölle aus und versucht, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Doch die Angst um ihr Leben und das ihrer Mutter lässt sie nie los.
„Muchachas –Tanz in den Tag“ ist der erste von drei Bänden, die das Leben von Hortense, Stella und Josephine, der Mutter von Hortense, miteinander verbinden sollen. Im ersten Band überwiegt jedoch deutlich die Darstellung des Lebens von Stella und ihrer Mutter, so dass die Figuren von Hortense und Josephine etwas verloren am Rand der Geschichte stehen. So ganz klar wird beim Lesen nicht, was ihre Geschichten damit zu tun haben, aber das die Handlung auf drei Bände angelegt ist, werden sie in den folgenden Geschichten sicher noch eine größere Rolle bekommen. Von dieser Kleinigkeit abgesehen ist Katherine Pancol ein wunderbarer und einfühlsamer Roman über die Verzweiflung gelungen, die in Stella vorherrscht, weil sie nicht weiß, wie sie ihrer Mutter helfen soll. Der ganze Ort hält zu dem Helden und Feuerwehrmann Ray Valenti, niemand will etwas unternehmen, wenn ihre Mutter wieder einmal mit den Spuren eines „Treppensturzes“ oder ähnliches im Krankenhaus auftaucht. Stellas Angst beschreibt die Autorin so nah und plastisch, dass einem beim Lesen öfter ein Schauer über den Rücken läuft. Ihre Welt ist so eingeschränkt und beherrscht von Sicherheitsvorkehrungen und der Frage, wem sie trauen kann, dass ihr ein normales Leben völlig fremd ist. Dass sie daneben auch noch ihren Sohn vor dem Einfluss von Ray Valenti schützen muss, macht ihr Leben umso angespannter und verzweifelter.
Auch wenn das Cover und der Titel einen völlig anderen Eindruck vermitteln, ist „Muchachas – Tanz in den Tag“ eine sehr ernste und berührende Geschichte über die Spirale aus Gewalt und Schweigen, die in einer Gemeinschaft entstehen kann. Ich bin schon sehr gespannt, wie es mit den Figuren in den nächsten Büchern weitergeht. Sehr lesenswert ist auch das Nachwort der Autorin zu dieser Geschichte, das einen sofort in die Realität zurückholt und einem vor Augen führt, wie wenig fiktiv diese Geschichte ist.