Dienstag, 29. Juli 2014

Rachel Joyce "Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte"


Zwei Sekunden braucht es, um das Leben von Byron und seiner Familie komplett aus den Fugen zu heben. Zwei Sekunden, in denen nur Byron sieht, wie ein kleines Mädchen vor das Auto seiner Mutter läuft und verletzt wird. Seine Mutter scheint nichts bemerkt zu haben und fährt im dichten Nebel einfach weiter. Als er ihr einige Zeit später erzählt, was passiert ist, bringt er ihr ganzes Leben durcheinander.
Byrons Familie ist eine klassische, englische Vorzeigefamilie. Die Kinder gehen auf eine Privatschule, seine Mutter ist zu Hause, kümmert sich um Haus und Garten und kocht. Der Vater ist nur am Wochenende da und erwartet den perfekten Schein, den er mit dem Haus und seiner Familie quasi gekauft zu haben scheint. Doch die Fassade bröckelt immer mehr und Byrons Mutter scheint an der Perfektion zu zerbrechen. Immer stärker wird sie in den Erzählungen ihres Sohnes zu einem fragilen, unsicheren Schatten der Frau, die sie sein will und die die Umwelt von ihr erwartet. Dass all dies aus der Sicht des Jungen Byron erzählt wird, macht die Geschichte so besonders, denn sein Blick auf die Handlung ist sehr ungewöhnlich. 
Parallel erzählt die Autorin die Geschichte von einem älteren Mann, der in einem Supermarkt arbeitet und schon viel Zeit seines Lebens in psychatrischen Einrichtungen verbracht hat. Erst spät verbindet sich die Geschichte mit der von Byrons Familie, dennoch nimmt einen auch diese Handlung emotional sehr mit. 
Rachel Joyce macht diesen Roman zu etwas Außergewöhnlichem, indem sie die Geschichte aus dem Blickwinkel eines Jungen erzählt, ohne Informationen hinzuzufügen, die Byron nicht hat oder die er als unwichtig erachtet. So muss man beim Lesen teilweise schon detektivisch darauf achten, was der Erzähler mit bestimmten Ausdrücken und Situationsbeschreibungen meint und sich immer klar machen, dass man durch die Brille eines Kindes schaut und nicht den Schilderungen eines über den Dingen stehenden Erzählers Glauben schenken kann. Durch diese Tatsache berührt die Geschichte einen jedoch auch besonders, denn Byron wächst einem in seiner etwas seltsamen Verschrobenheit schnell ans Herz und man möchte ihm manchmal helfen und erklären, was sich in seiner Familie vor seinen Augen wohl gerade abspielt. 
Wer beim Lesen einen zweiten Harold Fry erwartet hat, wird überrascht sein von der Tiefe und Ernsthaftigkeit der Geschichte. Doch wenn man sich darauf einlässt, weiß Rachel Joyce auch dieses mal zu begeistern. 

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