Wie oft würde wir gerne die Zeit zurückdrehen und Dinge noch einmal ganz anders angehen. Ursula kann etwas sehr ähnliches, sie kriegt immer neue Chancen für ihr Leben, trifft an wichtigen Kreuzungen neue Entscheidungen, hält sich an andere Menschen und andere Orte und kann so viel Leid vermeiden. Dennoch zeigt ihr Beispiel, dass es das perfekte Leben nicht gibt, obwohl sie so viel neu beginnen kann, erlebt sie viel Schreckliches und lebt auch ständig mit einer unklaren Angst. Sie weiß, dass etwas schlimmes passieren wird, kann jedoch nicht erklären was und wann genau.
Kate Atkinson ist mit „Die Unvollständige“ ein großartiger Roman gelungen, der nachdenklich stimmt und einen trotzdem mitreißt. Ursula lebt in turbulenten Zeiten während des Ersten und Zweite Weltkriegs und je nachdem welche sie Entscheidung sie trifft, ist sie entweder eine alleinstehende Frau im Londoner Bombenhagel oder lebt verheiratet mit Kind in Deutschland und gehört sogar zum Bekanntenkreis von Eva Braun und Adolf Hitler. Die kleinsten Rädchen, die sie umstellt, verändern ihr gesamtes Leben und auch Sterben. Die ganze Geschichte beschreibt die Autorin auf eine spannende Art und Weise, ohne dass einem das Gefühl vermittelt wird, in den Bereich Fantasy oder Science Fiction abzugleiten. Auch die Charakterstärke von Ursula variiert je nach Lebensentwurf und Situation, mal schwächlich zurückhaltend an anderen Stellen selbstbewusst und moralisch sehr geprägt, trifft sie Entscheidungen neu und rettet sich so ein ums andere Mal das Leben, ohne es wirklich zu wissen. Denn ihr ist diese Fähigkeit immer neu zu beginnen gar nicht wirklich bewusst wie es scheint, sie hat nur Ahnungen und verschwommene Instinkte, die von Dingen abraten.
„Die Unvollständige“ ist ein großartiger Roman, der von Stil und Spannung sehr an „Die Frau des Zeitreisenden“ von Audrey Niffenegger erinnert. Diesen Vergleich muss die Autorin jedoch nicht scheuen, ist ihr Roman doch genauso großartig gelungen wie „Die Frau des Zeitreisenden“.